ABFAHRT
Was zeichnet die Lauberhornstrecke aus…
Sicher die verschiedenen anspruchsvollen und interessanten Streckenabschnitte: Um die Lauberhornabfahrt zu gewinnen benötigen die Rennläufer viel Mut, Risikobereitschaft und eine perfekte Technik und Kondition.
Russisprung
Dieser Sprung war weder ein Projekt noch eine Idee. Für eine Fernsehsendung im Frühling suchte Bernhard Russi einen idealen Sprung für technische Aufnahmen. Den Ansatz dazu fand er auf der Lauberhornschulter und liess den Sprung mit viel Schnee aufbauen. Vor dem nächsten Rennen entschied Fredy Fuchs, diesen unter dem Arbeitstitel „Russisprung“ in die Strecke zu integrieren.
Traversenschuss
Innert 5 Sekunden steigert sich das Tempo von 100 auf über 130 Stundenkilometer. Der Schuss ist in einer leichten Schlangenbewegung angelegt und zu Beginn, am AK-Start vorbei, von vielen Wellen durchsetzt. Die Herausforderung liegt in der Aerodynamik, der tiefen Hocke des Rennfahrers und der perfekten Linie durch die unruhige Linkskurve in die Traverse zur ersten Zwischenzeit.
Hundschopf
Das eigentliche Markenzeichen der Lauberhornabfahrt. Die enge, felsige Passage erscheint als unpassierbar, nicht fahrbare Einzelstelle. Zu eng, zu steil und der Sturzraum zu kurz und zu hart. Am Hundschopf trennen sich Mut und Respekt, Risikobereitschaft und Taktik, Sprungtechnik und Linienwahl. Auf engstem Raum kommt alles zu Tragen, was von einem Abfahrer verlangt wird. Die Kurven davor sind enger als üblich, zwischen den Felsen links und dem Fangnetz rechts sind höchstens 5 Meter, die Sprungkante ist nur zu erahnen, die Linienwahl ist geprägt durch den Abschluss des Netzes und die Vorstellungskraft des Fahrers. Und danach das Bodenlose!
Minschkante
Eine geniale Kombination aus Sprung, Kurve, Linienwahl und höchsten technischen Anforderungen an den Fahrer. Je nach Geschwindigkeit kann diese Rechtsbiegung mit einem weiten oder engeren Radius gefahren werden. Das richtige Mass entscheidet über genügend Landeraum vor der Kompression. Joos Minsch ist bei weitem nicht der Einzige, der hier von der Piste abgeworfen wurde, aber eines der ersten prominenten Opfer. Im ersten Training zur Lauberhornabfahrt 1965 wollte der Bündner gleich zeigen, wie stark er ist. Die schlechten Bedingungen liessen aber nur einen Start ab dem Hundschopf zu. Trotzdem oder gerade deshalb riskierte Joos Minsch auf die Kante hin zu viel, sprang zu weit und brach bei der Landung ein. Der Sturz war nicht mehr aufzuhalten und endete erst unten beim Bahngeleise. Das Resultat: Beckenbruch, neun Wochen Spitalaufenthalt, Saisonschluss und Namensgebung einer anspruchsvollen Schlüsselstelle.
Alpweg mit Kernen-S
Mit über 100 Stundenkilometern geht’s auf dem nur 3 Meter breiten und durch das Netz auf der Talseite wie ein Kanal wirkenden Alpweg in die verrückteste Schikane des Weltcup-Zirkus. Eine enge Rechts-links-Kombination über das Brüggli bremst den Fahrer auf einen kritischen Tempobereich (70 bis 80 Stundenkilometer) hinunter, mit dem er die nachfolgenden 20 Sekunden leben muss. Bruno Kernen, der Sieger von 2003, knallte 1997 rückwärts und furcht erregend ins Netz und wurde brutal auf die Piste zurückgeworfen. Das kurze, vorsichtige Andriften zu Beginn der Rechtskurve gilt also nicht nur dem optimalen Tempoerhalt, sondern auch dem Kampf gegen die Sturzgefahr.
Wasserstation
Die Trilogie der verrückten Passagen am Lauberhorn findet nach Hundschopf und Alpweg bei der Wasserstation ihren vorläufigen Höhepunkt. Diese Nadelöhr lässt nicht nur die Zuschauer, die im Zug diese Bahnüberführung passieren, den Atem anhalten, sondern auch die Rennfahrer bei der ersten Besichtigung dreimal leer schlucken. Mit 90 bis 100 Stundenkilometern schiessen sie durch diesen Engpass der eigentlich mit 9 Meter Breite zu schmal ist und so niedrig, dass sich keiner traut, aufrecht in das dunkle Loch zu fahren.
Langentrejen
Der undankbare Streckenabschnitt! Hier werden Rennen gewonnen und verloren. Das Flachstück mit den lange gezogenen Richtungsänderungen gibt dem Fahrer Zeit für eine Zwischenbilanz, erste Ermüdungserscheinungen werden wahrgenommen, und während des Gleitens gelten die Sensoren dem Ski: Liegt er schön flach, sind die Kanten zu aggressiv, beschleunigt er?
Hanneggschuss
Er ist steil, lang und dunkel und verlangt von jedem Fahrer eine Portion Überwindung. Wenn in der Hälfte des Schusses die Ski zu schwimmen beginnen, nur noch alle 10 Meter den Kontakt zum Schnee finden und unten in der dunklen Kompression die Piste wider Erwarten nicht breiter wird, dann kommt das Abfahrerherz zum Tragen. Dann werden die wahren Spezialisten kleiner, aerodynamischer und schrauben die Spitzengeschwindigkeit auf über 140 Stundenkilometer hinauf. Die Gefahr muss und kann man verdrängen.
Seilersboden
Ein kurzer Moment der Beruhigung. Hier, auf diesem kleinen Flachstück, kann sich die Atmung wieder normalisieren. Nach dem „Crescendo“ im Hanneggschuss muss in der flachen Linkskurve auf feines Druck- und Tempogefühl umgeschaltet werden.
Silberhornsprung
Der neu gestaltete Sprung aus dem Jahr 2003 brachte faszinierende Fernsehbilder mit dem Silberhorn im Hintergrund. In einer leichten Rechtskurve können die Fahrer den Fliehkräften und dem Flug freien Lauf lassen. Der Schüttelbecher Wegscheide hat damit einen neuen Charakter erhalten, und der zu später Stunde kurzfristig ins Leben gerufene Silberhornclub war Auslöser für die neue Namensgebung. Einziges Ehrenmitglied ist der damalige Sieger Bruno Kernen.
Österreicherloch/Wegscheide
Nur noch als Name ein Mythos. 1954 schieden hier Schlag auf Schlag die österreichischen Favoriten Toni Sailer, Anderl Molterer und Walter Schuster aus, abgeworfen von drei kurz aufeinander folgenden Buckeln. Die heimtückischen Wellen gibt es nicht mehr, die Österreicher haben einen Gegner weniger.
Ziel-S
Dort, wo alle grossen Rennen bereits zu Ende sind, folgt am Lauberhorn eine einzigartige, technisch äusserst anspruchsvolle Schlüsselpassage, die alle Resultate nochmals auf den Kopf stellen kann. Der Fahrer ist müde, hat Zeit sich kurz vorzubereiten und nochmals Zwischenbilanz zu ziehen. Er realisiert die Zuschauer und hört vielleicht sogar den Speaker. Er weiss, dass er hier alles verlieren oder auch die entscheidenden Sekundenbruchteile zum Sieg herausfahren kann. Für die meisten aber geht es hier, nach über 2 Minuten Fahrzeit, nur noch ums Durchkommen. Manch einer ändert hier nochmals ganz kurzfristig die Taktik und wird seiner einstudierten Linie untreu – weil er auf einmal mehr Müdigkeit verspürt oder weil er die Geduld und die Nerven nicht mehr hat. Die drei engen Kurven sind meistens vereist und unruhig und werden durch verschiedene Geländekonturen erschwert.
Zielschuss
Der Zielschuss mit der dazugehörenden Zielkante ist ein Resultat der Geschehnisse im Ziel-S. Zwischen problemloser Fahrt, Sturz und Zaubereien liegt hier alles drin. Aber kein Fahrer meistert diese letzte Klippe mit Reserven. Das Ziel vor Augen, zählt nur noch die direkte Linie. Der Zielsprung ist leicht entschärft, verlangt aber gerade deshalb die nötige Konzentration.
Ziel
„Das Ziel ist dort, wo der Fahrer zum Stehen kommt“. Diese Weisheit enthält nirgends so viel Wahrheit wie am Lauberhorn. Nach rund zweieinhalb Minuten Fahrzeit wird das Aufstehen aus der tiefen Hocke bei Tempo 100 und das Bremsmanöver innert 100 Metern zur letzten grossen Herausforderung dieser Strecke. Wer das Ziel in Innerwengen zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, zweifelt keinen Moment mehr dran, dass das Lauberhornrennen seinen ganz speziellen, eigenen Charakter hat. Wo die umliegenden Berge durch Grösse, Schönheit und Gefahr dominieren, ist es verständlich, dass die grossen Geschichten dieser Gegend in einer gewissen Geborgenheit stattfinden.